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Beiträge von Thomas123

    Rückschau und Würdigung


    1. Fertig
    Einer Dienstreise meiner Gattin verdanke ich die vorgezogene Fertigstellung meiner Jacke
    und den überarbeiteten Nächten und dem daraus resultierenden Schlafmangel eine Reihe von Fehlern, die ich hier kurz erläutern möchte,
    anderen Anfängern ihrem ersten Objektwagnis zur Anregung.


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    2. Frauen haben alles (... was man als Mann so braucht.)
    Familien-, Bekannten-, Nachbarschaftskreise: Es gibt nichts, was man sich dort nicht ausleihen und gegen eine Tafel Schokolade wochenlang in Gebrauch halten könnte ohne Beschwerde.
    Man muss halt rumfragen und sich erkundigen, aber dann bekommt man Ratschläge, Reißverschlüsse und Futterstoffe als Dreingabe, so viel man will.
    Weil: Frauen, sogar jüngere, aber auf jeden Fall die Generationen über mir, schneidern in einem prozentualen Anteil, der mich wirklich erstaunt.


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    3. Schneidern Sie keine Probejacke.
    Dem Vollendungsdrang folgend sagte ich mir, ist eh nur eine Musterjacke, da mußt du nicht so genau sein, die richtige kommt dann hinterher.
    Das ist völliger Quatsch. Jetzt habe ich eine tolle Jacke mit Mängeln, weil ich mir nicht die Zeit gelassen habe, jeden Punkt wirklich akkurat zu fertigen.
    In einem weiteren Sinn kommt mir das zwar entgegen,
    weil ich mich nur in und mit mängelbehafteten Dingen und Bekleidungsteilen richtig wohl fühle
    und die Rückbindung des Subjekts über die Stringenz des Objekts immer als Einengung empfunden habe, so wie die Buben immer am liebsten in ihren Schmutzhosen rumlaufen, weil da müssen sie nicht aufpassen wie im Sonntagsgewand.
    Aber so richtig stolz kann ich auf mein Werk nicht sein und rumzeigen tue ich es auch nicht.


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    4. Untere Blende
    Z.B. habe ich den unteren Beleg nicht nach Schnittmaß zugeschnitten, also nach Vorder- und Rücken- und Seitenteil mit allen Winkelschrägen, hätte da fünf Teile zusammennähen müssen,
    wollte ich mir ersparen, sondern einfach ein langes Rechteckband zugeschnitten und an das Futter genäht und dann natürlich eine Überfülle an Material gehabt, die sich nicht mehr richtig reinfügt, ohne in Falten gelegt werden zu müssen.


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    5. Seide
    Ich habe einen Futterstoff erhalten, echte Seide, also keine Futterseide aus Plastik, in einer Qualität, glatt, dick, schwer und unvergleichlich schmiegsam, wie ich sie noch nie in einem Kleidungstück gesehen habe. Leider hat die Menge nicht ausgereicht, ich mußte stückeln und mit einer anderen Seide, auch gut, aber nicht diese Finesse, kombinieren.
    Beim nächsten Projekt werde ich versuchen, selbige (Kauf ca. 1965) aufzutreiben.


    6. Loden
    Das Tuch ist von einer Tiroler Firma, Strichloden, großartiges, weiches Material. Leider auch nicht mehr zu bekommen, weil Weberei bankrott. Wolle ist ja ein Gewebe, das in der Tierwelt weit verbreitet ist und sogar der männlichen Menschenwelt wird nachgesagt, dass die Haare, die ihrer Brust entspringen, noch nicht plastifinen Ursprungs sind, sondern eher in tierischer Verwandschaft.
    Mit Wolle ist man also in guter Tradition, solange man keinen Rucksack trägt.
    (Man muss diese Global-Plastifizierung ja subpsychologisch deuten als vollkommene Entfremdung jeglicher natürlicher Herkünfte und als Vorwegnahme des synthetischen Humanums, der, vollkommen virtualisiert, in seinem Drang, die letzten Naturressourcen zu fraktisieren, selbige nur noch als geldbringenden Parktourismus denken kann, aber das ist ein anderes Thema, jedoch mit Schneidern nicht unverwandt, wird aber in diesem Forum nirgendwo erörtert. Auch ein Zeichen.)


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    7. Die Fronttaschen
    sind groß genug, damit ich meine Daunenjacke darin verstauen kann, für den täglichen Gebrauch allerdings zu groß, weil: Die Inhalte schlackern hin und her. Die nächsten Taschen werde ich ohne Volumen schneidern.


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    8. Niemals mehr Druckknöpfe!
    Erstens ist das ein Gepfriemel, sie einhändig zu schließen; man muss immer einen Knochen finden, der als Gegenlager dient, und zum anderen reißen sie aus und das Tuch muss dann neu unterlegt werden, weil man zwar einen neuen Drücker drauf machen kann, der hält aber nicht. Außerdem ist die Verschlusskraft abhängig vom Hammerschlag, mit dem man den Druckknopf im Tuch fixiert. Man darf nicht zu fest und nicht zu leicht schlagen, es ist eine Kunst.


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    9. Ärmeltaschen
    sind prima, die meinigen sind ergonomisch an der richtigen Stelle, aber nicht funktionell, dh. beim Armbeugen stößt man ihren Inhalt. Ich habe die Ärmeltaschen zu sehr nach innen angebracht, technisch gesehen sollte sie aber mehr am Außenärmel sitzen.


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    10. Reißverschlusstaschen habe ich drei,
    das ist zu wenig. Wirft man die Jacke auf den Gepäckträger können sich Tascheninhalte verflüchtigen. Ich glaube, Barbour fertigt die Taschen mit Innenklappe, das ist zwar nicht sicher,
    aber doch ein Hindernis. Ich mag Knöpfe, aber als Taschenverschluss kommt leider nichts an Reißverschlüssen vorbei.


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    11. Rückenkordel
    Ich habe die Öse in ein Leinenband geschlagen und dieses dann komplett auf Obertuch und Futter genäht. Dabei hat es mir irgendwie das Futter verzogen. Würde ich so nicht mehr machen.


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    12. Den Ärmel
    habe ich komplett mit Futter zugenäht und dann aus Stabilitätsgründen im Ganzen an das Torsoteil genäht, mit drei Nähten: Nahtnaht, Overlocknaht und Kantenbandnaht. Das ist jetzt fast ein Ring, der immer offensteht und für wunderbare Bequemlichkeit sorgt. Schön freilich ist das nicht. Sieht man aber von außen nicht.
    Der Ärmel ist fast fingerlang, damit er beim Radfahren gut am Puls sitzt.




    13. Der Schmutzkragen
    ist auch aus Seide und verhindert, dass mich die Wolle im Nacken kratzt. Ich wollte ihn nicht mit Druckknopf oder Knopf befestigen, also habe ich ihn punktiert, also mit größter Stichweite an drei Stellen angenäht und wenn er gewaschen werden muss, muss er abgetrennt und wieder angenäht werden. Das geht aber fix und sorgt dafür, dass weder Metall noch Knöpfe am Hals scheuern.
    Den Schmutzkragen habe ich auch nicht nach Schnittvorlage erstellt, sondern freihand,
    deswegen paßt er nicht optimal an den Kragen und funktioniert eher wie ein Schal. Naja.


    14. Die Ärmelweite
    läßt sich einhand verringern mit Druckknopf, ich werde aber noch einen zweiten in Mittelposition hinzufügen.


    15. Die Kapuze
    ist mit drei Druckknöpfen zu befestigen und mit Cupro gefüttert. Sie läßt sich verstellen, um auch eine Schiebermütze darunter tragen zu können oder einen Fahrradhelm, insgesamt aber falsch konstruiert. Sehe darin aus wie ein Eskimo auf Walfang.


    16. Passform
    ist tadellos, die nächste Jacke mache ich mir aber 7 cm länger. Ich hätte mir um den Schnitt überhaupt keine Gedanken machen müssen. Ob da jetzt ein paar Zentimeter mehr oder weniger sind, das sieht kein Mensch und beim Tragen merkt man das sowieso nicht. Wichtiger als den Schnitt finde ich die Ausstattung, also Taschen und Verschlüsse und deren Handhabung.
    Da muss ich noch tüfteln.


    17. Der Kragen
    ist auch ok, gefällt mir aber nicht, er fällt zu rund runter auf den Schulter-Nacken und bleibt nicht richtig stehen. Nächstes Mal mache ich gar keinen Kragen, sondern nur eine Halskrause.


    18. Eile mit Weile
    Mein nächstes Schneiderobjekt werde ich wie ein Gärtner angehen. Säen und dann behutsam zusehen, wie's wächst. Nicht in diesen Produzierwahn verfallen, sondern mir einen Tisch besorgen, wo das ganze Projekt wochenlang liegen bleiben kann, ohne dass was passiert und ohne dass es jemand stört. Ich werde versuchen, das Werk von innen heraus reifen zu lassen, wenn man das so pathetisch sagen darf, aber gemeint ist, sich der Sache nicht von der Idee her zu nähern und leiten zu lassen, sondern aus einem Moment der Behaglichkeit. Behaglichkeit kommt von Hege und Hege ist das Gegenteil von Nutzen und Wegwerfen. Im Zen gibt es den Spruch: 'When the shoe fits, the shoe is forgotten.' Ich glaube auch, dass sich Bekleidung transzendieren läßt, dass es Kleidung gibt, die so paßt, 'passen' nicht im Konfektionsterminus, dass man darüber keinen Gedanken mehr verschwendet, dass man über Bekleidung sozusagen hinauswächst.
    Schließlich geht es nicht um Klamotten, sondern um die Kürze des Daseins.

    Momentan bin ich beruflich so eingespannt,
    dass ich unmöglich zum Nähen komme.
    Außerdem möchte die Familie mal wieder gepflegt essen
    und daher soll ich den großen Tisch, den ich wochenlang besetzt halten konnte,
    von meinem Schneiderzeug befreien.
    Ich bedaure dies,
    denn dieses Nähprojekt ist pure Erholung.



    Es ist eine Herrenjacke zu fertigen,
    entweder aus Loden oder Leinen,
    wobei ich jetzt, zumal im Sommer, zu letzterem Material tendiere,
    wegen unkomplizierter Waschbarkeit.


    Der Müllersohn-Damenschnitt führt möglicherweise auf falsche Fährten.
    Es ist einfach so,
    dass beim Rumfragen im Bekanntenkreis sehr viel mehr Material für DOB existiert,
    als für Haka.
    Also besorgt man sich, was man kriegen kann und in meinem Fall war das einfach eine Ausgabe von Mäntel und Jacken für Damen,
    wobei ich illusorischerweise dachte,
    das könnte man mit leichten Anpassungen auch für Herren verwenden.


    Großer Irrtum.
    Erstens finde ich MüllerSohn generell furchtbar kompliziert, ja unverständlich und unbegründet,
    und zweitens sehe ich, dass Damen generell anders gebaut sind und schnitttechnisch gesehen differenziert konfiguriert werden müssen.
    Irgendwie habe ich das zwar schon immer gewußt,
    schließlich haben die weiblichen Formen einen großen Anteil in der Aufmerksamkeit,
    die man als Mann dem Gegengeschlecht entgegenbringt,
    aber so richtig bewußt ist mir der weibliche Körper erst über die Vielzahl an Abnähern und Nahtzugaben geworden und der unbegehrliche Blick auf die sozusagen reine Architektur des Weiblichen war doch eine neue Erfahrung.
    (Wahrscheinlich sind deswegen die meisten der berühmten Modemacher eher dem eigenen Geschlecht zugeneigt als dem, für das sie arbeiten...?http://www.welt.de/lifestyle/a…-schuld-am-Magerwahn.html )


    Ich bin mir auch über die Verschlüsse, Knopf, Druckknopf, Reißverschluss, noch unschlüssig.
    Das eine verlangt saubere Knopflöcher, das andere mag ich eigentlich nicht, sorgt aber dafür, dass sich Tascheninhalte nicht verabschieden können.


    Man bekommt beim Selbernähen einen Respekt davor,
    was die ach so geschmähte Industrie an Akkuratesse und Finish in die Läden bringt,
    weil man nun jedes Kleidungsstück nicht nur in seiner Gefälligkeit betrachtet,
    sondern nun auch in seiner Fertigungsqualität,
    und das ist meist schon beeindruckend gut.


    Den Ärmel konnte ich vor Tischräumung noch beenden
    und für den Kragen reicht mir ein Abstelltisch.
    Spätestens Pfingsten geht's weiter.

    Die Herren in der ersten Reihe lauern auf das Scheitern des Kandidaten.
    Liefern wir ihnen das Popcorn dazu:


    1.
    Kleidung ist nichts anderes als ein System kommunizierender Röhren unterschiedlich bemessener Rohrquerschnitte. Von Relevanz sind die Abzweige, wenn Nebenröhren von der Hauptröhre abgehen, also die Verbindungsführung Arm-Torso-Kragen.


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    2.
    Um mir dies überhaupt einmal in die Vorstellung zu bringen, habe ich mir Minimodelle geschnitten und spiele damit herum und schaue was passiert, wenn man hier was wegschnippelt und dort was dranfügt und wie die Partie aussieht, wenn man's dann wieder aufklappt.
    Das ist höchst amüsant, da das Gehirn beim Übergang vom Zwei- ins Dreidimensionale nicht kontinuierlich und stringent weiterarbeiten kann, sondern 'springen' muss, also eine neue Denkebene, einen Strukturwechsel eröffnen muss.
    Es gibt jede Menge Leute, die nicht mal einen Würfel abwickeln können und wer kleine Kinder hat, kann gut beobachten, beim Pappschachtelbau, beim Spielwürfelfalten,
    wie sehr das Denken hier stutzt und nicht weiter weiß und rätselt und dann der kolossale Zauber, wenn sich Flächen in Kuben verwandeln!


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    3.
    Ganz fesselnd ist Torsion. Wenn man Flächen parallel verschiebt, eindreht oder knickt, bringt man Spannung in das Element und es faltet sich von alleine auf.
    Man müßte also eine Schnitttechnik entwickeln, bei der Kleidungsstücke nicht kraftlos in sich zusammensacken wie Wäsche im Wäschekorb, sondern von sich aus offen bleiben und im Volumen.
    Dies müßte einhergehen mit einem Maß an Bequemlichkeit, die, vereint mit elastischem Material dem Urbild aller Schnitte, nämlich menschlicher Haut, sehr nahe kommt, ohne in Trikot zu enden.
    Aber das ist was für Fortgeschrittene und ich bin noch beim kleinen Einmaleins.


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    4.
    Jetzt aber geht es erst einmal darum, einen Parka hinzubekommen.
    An einem Parka kann man praktisch nichts falsch machen.
    Ein Parka paßt immer, den kann man gar nicht falsch schneidern.
    Selbst drei Nummern zu groß, gürtelt man sich einfach einen Strick um den Bauch und schon sitzt das Teil wie angegossen.
    Ich allerdings möchte einen elaborierten Parka, einen stadtfeinen und keinen für Schützengräben,
    daher gebe ich mir Mühe.


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    5.
    Die berechtigte Frage ist: Warum kauft er sich nicht einen?
    Warum verschwendet er Unmengen Zeit in diese Schneidertüftelei?


    Ganz einfach:
    Der Textilmarkt wird beherrscht von wenigen Großkonzernen,
    von der Tradition des 'Haben wir schon immer so gemacht',
    der Einfallslosigkeit des Verbrauchers und
    dem Diktat kalter Ökonomie mitleidsloser Rationalität.


    So ist das gesamte Outdoorsegment vollkommen in der Hand von Plastikgewebeherstellern:
    Polyester, Polyamid, Polypropylen, Polydingsbums.
    Eine simple Jacke aus reiner Baumwolle, von Bio nicht zu reden,
    kann man suchen gehen.
    Wolle und Leinen, Hanf oder Seide: Pustekuchen.



    Schlimmer noch hat es die Schuhbranche erwischt. Ein marketingstarker Folienproduzent hat sich den gesamten Outdoormarkt unter den Nagel gerissen und man bekommt keinen Wanderschuh mehr ohne dieses Tex-Mex-Zeugs. Völlig hirnrissig, weil die Folie in Bälde an den Gehfalten reißt und dahin ist die Wasserdichtigkeit. Fragt man den Handel, hört man: 'Der Kunde wünscht das so, also ordern wir das so.'


    Im Textilbereich gibt es noch Traditionshersteller,
    die aber aus guten Gründen ausscheiden:
    - Barbour hat dieses muffige, übelriechende Öl-Wachstuch, das beim Anfassen pappige Finger hinterläßt, zur Ikone erklärt und verkauft seine sackartigen Jacken nur über kluges Marketing (James Bond, Queen, Prinz Charles...)
    - Filson schneidert seine Mackinaw ohne Innentaschen und ohne Innenfutter.
    - Aero ist zu kurz und belastet die armen Schultern mit 5 Kilogramm und plus Tascheninhalt schleppt man dann einen halben Kasten Bier mit sich herum, also unzumutbar, ist ein Kleidungstück zum Sitzen, war ja auch mal Pilotenjacke, und nicht zum Bewegen.
    -Nigel Cabourn schneidert zu militärisch, zu wenig alpin und tuchseits großteils so brettlhart, da kann ich gleich Teppichfließen in Form von Harris-Tweed anlegen. Außerdem überbezahlt.
    -Armeekampfjacken haben mir zuviele Insignien des Hauen und Stechens, wiewohl man hier oft noch am besten bedient wird mit funktionalen Bekleidungsstücken ausgesuchter Robustheit zu gutem Preis.
    -Bei den Maßkonfektionären bekommt man nicht mal eine zweite Brusttasche und ordentliche Balgtaschen stehen nicht zur Auswahl, auch nicht gegen Aufpreis.
    -Bleibt der Gang zum Maßschneider. Diesen Spleen hatte ich vor Jahren und vierstellige Beträge in Sakkos, Hosen und Anzüge investiert und festgestellt: Trotz feinster Schneiderware, trotz dem ganzen sartorialen Gebräu, Schneiderkante, unfixiertem Brustplack, offene Ärmelknöpfe: Ich fühle mich darin nicht wohl, sondern gehemmt.
    -Was mir gefällt sind einzelne Stücke der BarbourTokito-Kollektion, aber leider aus unsäglichem Tuch, und hierzulande, weil limitiert, schwer zu bekommen und nur zu horrenden Preisen.


    6.
    Selber machen ist in ghandischer Tradition der Gang zum Meer,
    sich sein Salz selber zu schöpfen.
    Selber machen ist ein Grundrecht des Menschen.
    Selber machen ist Autonomie und Emanzipation.
    Erst im Selbermachen und nicht im Kaufen entfaltet sich Integrität.


    Daran kann niemandem gelegen sein.
    Deswegen ist Selbermachen ein oppositioneller Akt, er ist subversiv, marktradikal.
    Er ist in der Anti-Entmündigung.


    Man kann das an MüllerSohn festmachen.
    Die verbreiten keine Lehrwerke, sondern Anleitungen.
    Denen kann nicht daran gelegen sein,
    dass der Selberschneider das Selberschneidern profund versteht und sich autonom macht.
    Die würden kein einziges Buch mehr verkaufen.
    Also etablieren sie in möglichst komplexem System ein Herrschafts-Wissen,
    das den Kunden abhängig macht, das er nie kapiert, immer nur nachahmt,
    und ständig ergänzen muss: Grundlagen, Trachten, Herren, Damen, Gradierung, Röcke und Hosen, Jacken und Mäntel, je Band rund 100 Euro.
    Man läßt sich Wissen bezahlen.
    Diesen Sachverhalt muss man sich auf der Zunge zergehen lassen,
    denn er hat nichts mit MüllerSohn zu tun,
    sondern mit der Etablierung von Macht über KnowHow
    und deren merkantiler Verwertung auf allen Ebenen menschlichen Tuns.
    Wenn man sich die Konsequenzen hieraus erschließt,
    das Horten von Wissen, das Vorenthalten, die vorsätzliche Schaffung von Mangellagen
    und die daraus resultierenden menschlichen Beziehungen,
    dann wird man ein Fan von Wikipedia und von Foren wie diesem,
    darin Menschen in einem unentgeltlichen Geben und Nehmen konträrökonomische Verbindungen eingehen,
    auch wenn die meisten Foren werbeorientiert sind
    und über möglichst viele Forenten
    und deren kostenlos bereitgestellten Beiträgen und also möglichst viel Traffic
    den Anzeigenpreis in die Höhe schrauben können
    und damit möglichst viel Geld verdienen.


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    7.
    Selberschneidern ist ein Kulturakt,
    eine multidimensionale Schau und Nachvollzug menschlicher Bekleidungsbemühungen von der Steinzeit bis zur Nacktheit und ein Beitrag zur Dedehumanisierung industrieller Arbeitswelten.
    Es mag sein,
    dass meine Schneiderunternehmung in manchen Augen die Grenze der Lächerlichkeit längst überschritten hat.
    Ich aber glaube, dass es mit vergleichsweise simplen Mitteln, geistigen wie materiellen,
    meine Nähmaschine etwa ist nicht computergesteuert, sondern von 1960,
    möglich ist, sich eine Jacke zu fertigen,
    die den persönlichen Bedürfnissen besser gerecht wird,
    als jedes Industrieprodukt.
    Und zwar aus folgendem Grund:


    8.
    Die Industrie kann auf mich keine Rücksicht nehmen,
    weil sie mich gar nicht kennt.
    Industrie schneidert anonym, für Massenbedürfnisse und Massengeschmack und Durchschnittswerte von den Maßen bis zur Ausstattung bis zur Gestaltung.
    Das ist der erste Grad der Dehumanisierung, der zweite setzt sich fort in den Arbeitsbedingungen derer, die fertigen für Kunden, die sie nicht kennen und im dritten Grad, da Textil verkauft wird mit Produktzuschreibungen, deren Qualitäten dem Objekt nicht innewohnen.


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    Man muss das alles negieren.
    Ich z.B. denke mir meinen Parka zuvorderst von den Taschen her.
    Als nicht Handtaschenträger frage ich mich,
    wie ich die Utensilien des täglichen Bedarfs im Kleidungsteil unterbringe
    und zwar so griffbereit und so bewegungsaffin wie nötig.
    Denn im Gebrauch zählt weniger die Güte der Konstruktion,
    als die Form der Taschen, die Praktibilität der Eingriffe,
    die Sicherheit der Verschlüsse und deren flüssige Handhabung,
    also täglich zigmal ausgeführte Gesten.
    Und daher ist eine Bekleidung nicht statisch zu denken, sondern mobil.
    Man muss Bekleidung gestenorientiert gestalten und kommt dann zu völlig anderen Aufbauten,
    als sie etwa den Stehanzugträgern in etikettiertem Kalkül auferlegt wird,
    als Code, dem es sich unterzuordnen gilt, bei Gefahr sozialer Ausgrenzung bei Mißachtung.


    Deswegen ist eine Jacke immer auch ein Politikum, ein Statement
    und sie gibt die Nähe zu Establishment und Soziabilität preis,
    verortet seinen Träger im gesellschaftlichen Gefüge
    und dem kommt man nicht aus.


    Deswegen ist Bekleidung immer ein Gesamtkunstwerk,
    darin von der Religion bis zur Identitätszuschreibung sämtlicher Gehirnschmalz seines Fertigers einfließt und das ist das sakrisch Spannende daran.
    Bekleidung ist niemals nur Bekleidung.
    Bekleidung ist immer in der Transzendenz.
    Sie reicht von den Tiefen anthropologischer Herkünfte bis zum banalen Verstauen mitgeführter
    Gerätschaften in angemessener Praktikabilität.


    Unsere Schulen lehren so etwas nicht mehr.
    Sie lehren Abspeichern, Anwenden, Diagnose, Austauschen, Wegwerfen, Neuproduktion.
    Es ist ein Trauerspiel.
    Es ist kompletter Irrsinn.
    Schneidern hilft.
    Selber.
    Selbst.

    Ich habe eine Lösung gefunden, möglicherweise eine irrige,
    darum hier noch ein Nachtrag:


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    Dies im Bild ist Konstruktion nach MüllerSohn.
    Völlig unbrauchbar für den Laien.
    Erstens wird darin nichts erklärt, keinerlei didaktischer Aufbau zum Wie und Warum,
    noch zum grundlegenden Verständnis von Schnittführung,
    sondern pure Anleitung, nach Körpermaßen irgendeinen Grundschnitt zu zeichnen,
    je nachdem man eine Jacke, einen Mantel, ein Kleid fertigen will und darum sind im
    Buch auch nicht ein, sondern gleich ein Dutzend Grundschnitte zu finden.
    Das ist für Leute, die Schneider gelernt haben oder Directrice oder eine Modeschule besuchen.


    Selbst wenn ich es schaffen würde, solch eine Konstruktion hinzubekommen,
    würde ich mich immer noch im Modeempfinden von MüllerSohn befinden,
    also in einem Gedankenrahmen, der nicht der eigene ist
    und etwas tragen, von dem andere denken, dass es so aussehen muss,
    von den Zugaben bis zur Linienführung zur Gestalt.


    Ich bin jetzt von folgender Überlegung ausgegangen:


    Es gibt bei jedem Kleidungsstück, gleich ob Hemd, Jacke oder Mantel,
    drei Körperkonstanten: Vordere Mitte, hintere Mitte und Schulterschräge,
    wobei vordere und hintere Mitte immer in Deckung sind und jedes Kleidungstück in seiner Tragfunktion, egal ob Ballkleid oder Weste, immer auf den Schultern ruht.
    Deswegen ist die Schulterschräge das entscheidende Maß.
    Wenn hier der Winkel stimmt, stimmt die ganze Konstruktion.
    Der Rest: Abnäher, Abnehmer, Zugaben, Weiten ... sind Mode und individuellem Körperbau geschuldet.


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    Um zu diesen Kernmaßen zu kommen, also Halsweite und Schulterschräge,
    habe ich mit einem gefalteten Meterstab, einer Art Schieblehre, Halsspiegelweite
    und Nacken-Brust-Abstand gemessen.
    Das ist primitiv und exakt zugleich.
    Man hat damit die Begrenzungsmaße innerhalb derer sich die Halskurve zeichnen läßt.
    Diese Halskrause läßt sich dann umlegen und auf Passform prüfen
    und dann in die Schnittvorlage übertragen.
    Das ist so simpel und so präzize, dass man damit millimetergenau arbeiten kann
    und sogleich überprüfen am eigenen Hals, gänzlich ohne Rechnerei.
    Und Packpapier hat den Vorteil, eben weil es sich nicht anschmiegt,
    Fehler sofort sichtbar zu machen. Es steht einfach weg, statt aufzuliegen.
    Man sieht sofort, wo es happert.
    Und es geht schnell. Statt nähen, auftrennen, neu nähen: Kleben und schneiden.


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    Genauso verfährt man mit der Schulterschräge: Man hält sich den Meterstab lotrecht ans Ohr
    und klappt einen Teil davon runter auf die Schulter.
    Diesen Winkel zeichnet man direkt auf ein Blatt Papier und sogar ungleiche Schultern sind damit in zwei Minuten akkurat erfaßt und zu Schnitt gebracht.


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    Nach dieser Methode habe ich mir wieder eine Pappjacke gemacht und siehe da:
    Genau so, wie ich es eigentlich schon immer haben wollte.


    Die nächsten Tage noch den Ärmel gezeichnet, dann fange ich an zu nähen.
    Womit im Grunde ja noch nichts getan ist,
    denn die Wahrheit ist: Das perfekte Designerstück ist keine Gewähr,
    dass man sich darin auch wohlfühlt.
    Denn zwischen Idee und Gebrauch klafft der Abgrund des Unkalkulierbaren.

    Ich habe eine Frage:
    Wie konstruiert man als Laie den Schulter-Nacken-Bereich einer Herren-Jacke?


    Hier ein wenig Erläuterung:


    Eine Jacke ist kein Sakko, habe ich mir gesagt,
    das Ding fällt gerade herunter,
    was kann man da schon falsch machen.


    Ich habe mir also einen Schnitt gezeichnet,
    der so ungefähr aussieht, wie alle Schnitte irgendwie aussehen.


    Nun ist es aber so,
    dass beim Übergang vom Zwei- ins Dreidimensionale sich die ganze Konstruktion verschiebt
    und Punkte und Linien, die vorher noch freudig Kontakt hatten,
    plötzlich frei im Raum schweben und zwar im Irgendwo.
    D.h. zu beurteilen, ob das Ganze dann überhaupt zusammenpaßt,
    ob es überhaupt meinem Körper entspricht, ob es bequem ist,
    vom ästhetischen gar nicht zu sprechen,
    ist schlichtweg unbeurteilbar.
    Da kaufe ich dann gleich von der Stange,
    da sehe ich, wie das Ding an mir aussieht.


    Nur, was ich will, gibt es nicht zu kaufen,
    daher also: selber machen.


    Ich habe mir dann Schnitttechnik für DOB von MüllerSohn besorgt,
    weil ich dachte, da könnte man was abgucken.
    Ist aber hochkomplex und auf Modelle abgestimmt,
    die vor 30 Jahren en vogue waren,
    für mich letztlich unbrauchbar.


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    Dann habe ich mir gedacht,
    ich konstruiere überhaupt nicht mehr,
    sondern modelliere.
    Habe mir also 20 Meter Packpapier gekauft und fleißig drauflos geschnippelt
    und mich dann vorsichtig in eine Papierjacke gequält.
    Erstens zieht es das Ding ständig nach hinten
    und zweitens klafft es vorne A-förmig auf, also am Hals geschlossen und an der Hüfte weit offen.
    Also, denke ich mir, stimmt deine Schulterschräge nicht,
    nehme vorsichtshalber die Seitenteile raus und klebe die Schulterschräge um.
    Keine Besserung.
    Denke, vielleicht ist dein Halsausschnitt nicht akkurat und ändere auch den.
    Keine Besserung.
    Ich verbrauche zwei Rollen Tesa und nach dutzendfacher Neuverklebung und Neubewinkelung gebe ich auf.


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    Dann bin ich zu youtube gegangen.
    Deutschsprachiges Material ist da wenig drin,
    aber die Neuseeländer sind ganz eifrig dabei,
    aber so ein richtiges Tutorial habe ich nicht gefunden.
    Am besten hat mir noch gefallen:


    http://www.youtube.com/watch?v=KFs_6UAr7eo


    Ich habe versucht, mich daran zu orientieren,
    wobei mir aber überhaupt nicht klar ist, warum sie mal 2 Zentimenter nach oben oder nach unten geht und warum jetzt die Halsweite durch 5 geteilt wird und welchen Effekt das hat,
    schließlich will ich in einem Parka enden und nicht in einem hautengen weiblichen Top.
    D.h. der Transfer in meine Bedürfnisse ist auch hier schwierig zu bewältigen.
    So was in der Art allerdings wäre nicht schlecht,
    habe aber kein weiteres Videomaterial gefunden.


    Nochmal die Frage:
    Kennt einer der Experten hier eine leicht verständliche Anleitung im web,
    die einem anschaulich erklärt, wie man Halsweite, Schulterschräge usw. konstruiert,
    und worauf zu achten ist?


    Für jede Anregung bin ich dankbar!
    Grüße!
    T.

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